Kongresszukunft

Zerbrochene Glaskugel, „micelab“ und „Future Meeting Space“

AUSTRIAN CONVENTION BUSINESS MAGAZIN (PRINT 2023/01)

Gerhard Stübe

Wie sieht die Kongresszukunft 2030 aus? Beantworten kann diese Frage niemand, aber sich mit ihr beschäftigen sollte man in jedem Fall – ein Rundblick über den aktuellen Stand der Dinge

Es ist eines der wohl wichtigsten Themen überhaupt, sich Gedanken über die Welt – und speziell im Convention-Bereich – über die Gestaltung der Meetings von morgen zu machen. Davon ist Gerhard Stübe, Präsident des ACB (Austrian Convention Bureau) und Chef der Kongresskultur Bregenz, überzeugt, der die Entwicklung unter dem Schlagwort „von der Meeting- hin zu einer Meaning-­Industrie“ zusammenfasst. Gerhard Stübe: „Wir müssen weg von Standardlösungen.“

Als gangbarer Weg schwebt ihm „eine viel engere Bindung zwischen der Meaning-­Industrie und den Veranstaltern“ vor, die durch Dinge wie „Co-Creation“ (der Begriff steht für kreative Kollaboration, im Sinn inter­disziplinärer Zusammenarbeit unterschied­licher Fachdisziplinen) oder „Bricolage“ (Improvisation, Gegenstände werden in einen neuen Kontext gestellt) gewährleistet werden kann.

„micelab:bodensee“

Wobei Gerhard Stübe und seine Kolleg:innen in Vorarlberg, allen voran der Geschäftsführer des Bodensee-Vorarlberg Tourismus und Chef von Convention Vorarlberg Urs Treuthardt, zu den Wegbereitern Österreichs bezüglich Kongress-Zukunft zählen. Bereits 2014 starteten sie mit dem „micelab:bodensee“ eine Plattform, die sich grenzüberschreitend mit der Weiter­entwicklung der MICE-Branche beschäftigt.

Ergänzend dazu wurde der „micelab:explorer“ entwickelt, als „Forschungslabor und Ideenschmiede der Weiterbildungsplattform“, wie Urs Treuthardt betont. „Wir nehmen hier Einflussfaktoren auf Kongresse, Tagungen und Events unter die Lupe – und vor allem, wie sie auf den Menschen wirken.“ Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen, wie Soziologie, Improvisationstheater, Hirn- und Resonanzforschung, Naturpädagogik, Regie, Coaching, Leistungssport und viele mehr, werden zu den Veranstaltungen des „micelab:bodensee“ eingeladen.

„Future Meeting Space“

Um Kongresse der Zukunft geht es auch bei dem vom German Convention Bureau (GCB) 2015 gemeinsam mit dem Fraunhofer-­Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) installierten Innovationsprojekt „Future Meeting Space“. Zu dessen Partnern gehört auch der EVVC (Europäischer Verband der Veranstaltungs-Centren), dem rund 650 Veranstaltungszentren, Kongresshäuser und Special Event Locations in Europa angehören, aus Österreich u. a. die CMI (Congress & Messe Innsbruck), Olympiaworld Innsbruck, die Messe Congress Graz, die Wiener Stadthalle sowie die Kongresskultur Bregenz.

In einem ersten Schritt wurden 2015 vom „Future Meeting Space“ sechs unterschiedliche Szenarien zukünftiger Veranstaltungsformen entwickelt, um die künftig auftretenden Teilnehmerbedürfnisse und -anforderungen möglichst optimal erfüllen zu können (Teil der damaligen Studie war ein umfangreicher Innovationskatalog mit neuen Ansätzen für Business Events der Zukunft).

In den Jahren 2017/18 folgte eine weitere Studie über den „Erfolgsfaktor Teilnehmer­experience“, zwei Jahre später eine zur „Rolle von Business Events im Kommunikationsmix“ und 2021 wurde unter dem Titel „Herausforderungen der Post-Corona-Epoche“ anhand von branchenübergreifenden Best-Practice-Beispielen das sich verändernde Ökosystem von Veranstaltungen analysiert.

Innovationskraft und Zukunftsfähigkeit

Drei spannende Szenarien kristallisierten sich dabei heraus: „Green and aware“ (also Nachhaltigkeit), „Tried and trusted“ (Renaissance der persönlichen Begegnung) sowie „Diverse and flexible“ (hybride Mischmodelle mit physischen und virtuellen Speakern aus aller Welt). Für Kristina Kastelan, die damals als Convention-Managerin der Congress- und Tourismus-Zentrale Nürnberg (CTZ) in das Projekt eingebunden war und seit rund einem Jahr als Consultant beim auf MICE- und Gesundheitstourismus spezialisierten Beratungsunternehmen PROJECT M tätig ist, ist eine „Auseinandersetzung mit allen Szenarien nötig, um innovationsfähig und zukunftsorientiert agieren zu können“.

Must-have-Komponenten für die Teilnahme

In seiner Forschungsphase 2022 widmete sich das „Future Meeting Space“ unter dem Motto „Redefining Event Attendance“ den Beweggründen für eine Entscheidung pro oder contra der physischen Teilnahme an Veranstaltungen und zwar entlang der gesamten Customer Journey. Präsentiert wurden die Ergebnisse Mitte Dezember vorigen Jahres. Demnach können Faktoren wie nahtloses Reisen (für 90 % der Befragten „sehr wichtig“) und Hygiene (für 60 % der Befragten eine absolute Grundvoraussetzung) dazu beitragen, die Motivation zu Veranstaltungen zu reisen, deutlich erhöhen.

Mikromobilität, – die Nutzung klimafreundlicher Verkehrsmittel und die Kompensation der durch Veranstaltungen verursachten CO2-Emissionen –, ist für 75 % der Befragten relevant, vor allem für die Altersgruppe der 26- bis 35-Jährigen und für internationale Teilnehmer:innen. Dasselbe gilt für die Möglichkeit, den lokalen Charakter, also sowie regionale und kulturelle Besonderheiten, zu erleben. „Sie gehören damit zu den absoluten Must-have-­Komponenten, um internationale Teilnehmer:innen zur Teilnahme an Präsenzveranstaltungen zu bewegen“, wie Tilman Naujoks, verantwortlich für den Forschungsbereich Organisationsentwicklung und Arbeitsgestaltung bei Fraunhofer IAO, im Rahmen der Präsentation betonte.

Das Vorhaben 2023 des „Future Meeting Space“ ist bereits mitten im Gange und läuft unter dem Titel „Navigating Business Events in Challenging Times“. Dabei steht die Neu­justierung von Meetings, Tagungen und Kongressen im Mittelpunkt. Die Ergebnisse des ganzjährig laufenden Forschungsprojektes werden Ende 2023 präsentiert.

Von „Nachhaltigkeit“ bis „Community Building“

Ganz anders das Thema Digitalisierung: Für Dr. Christina Buttler, Chief Medical Education Officer bei der auf interdisziplinären Wissensaustausch von Ärzten spezialisierten Kongressplattform „esanumesanum“ (weltweite Reichweite, über 2 Mio. Ärzte aus über 100 Nationen) nimmt sie einen großen Part im Bereich der Convention-Zukunft ein. „Wissen bekommt durch die Digitalisierung eine neue Realität in der Weise, wie wir es uns aneignen und teilen“, so Christina Buttler in einem vor eineinhalb Jahren veröffentlichten Beitrag über den „Kongress der Zukunft“.

Diese veränderte Art und Weise der Wissens­aneignung ändere auch das Verhalten von Menschen, wie diese als Teilnehmende in einen Kongress gehen und was sie von wissensvermittelnden Veranstaltungen erwarten. So ermögliche die Digitalisierung mehr „Nachhaltigkeit“ (d. h. weniger Flugreisen, mehr Wert bezüglich Regionalität), eine erhöhte „Konnektivität“ (diese wird auch auf Kongressen erwartet) sowie verstärkte „Kollaboration und Kooperation“, die Christina Buttler als Treiber von Innovation ansieht.

Zu guter Letzt gehört auch das „Community Building“ zu den positiven Auswirkungen der Digitalisierung für die Zukunft der Kongresse. „Ob es sich nun um ein Unternehmen oder einen Verband handelt, alle wollen mit ihren Teilnehmer:innen, Kund:innen oder Mitgliedern in Beziehung bleiben und sind dementsprechend dazu aufgerufen, das auch digital sowie physisch zu inszenieren“, weiß Christina Buttler aus jahrelanger Erfahrung als Director Strategy & Innovation bei der Kongress- und Event-Agentur MCI Deutschland.

Dadurch, dass die Teilnehmer:innen tendenziell jünger, digitaler und technikaffiner werden, kommt den genannten Punkten – also Sustainability, Kollaboration und Kooperation sowie Community Building – künftig eine verstärkte Bedeutung zu. Buttler: „Das trifft sicherlich nicht auf jede Teil-Zielgruppe von Veranstaltungen oder für jedes Kongressformat zu, jedoch lässt sich dieser allgemeine Trend klar erkennen.“

Inhaltliche Gestaltung als Erfolgsfaktor

Wobei die Teilnehmerzahlen in Zukunft – wie bereits in den zurückliegenden Jahren – bei vielen Kongressen nicht mehr dieselbe Größenordnung erreichen wie einst. Dies hat u. a. mit den Transparenz- und Pharma­kodizes zu tun, wodurch etwa Ärzt:innen nicht mehr zu Kongressen eingeladen werden, wie es früher oft der Fall war, sondern ihre Teilnahme selbst finanzieren müssen, wie Inge Hanser, Managing Director der vor über 40 Jahren gegründeten, auf Kongresse spezialisierten, eidgenössischen Full-Service-Agentur CPO Hanser Service, in einem Interview auf dem Fachportal medizinonline.com betonte.

Auch Speaker sind davon betroffen, denn laut Transparenzkodex müssen Firmen bekannt geben, welche Vortragenden in welcher Abhängigkeit zu ihnen stehen und welche Mittel sie erhalten. Inge Hanser: „Für wissenschaftliche Programme müssen heute die Speaker genau bekannt geben, wo sie von wem genau gefördert werden.“ Wobei es im Gegensatz dazu Kongresse mit stabilen oder sogar wachsenden Teilnehmerzahlen gibt. „Es hängt stark von der inhaltlichen Gestaltung der Kongresse ab“, so Hanser.

Frage der Frequenzen

Zu hinterfragen sind zudem die Frequenzen. So gibt es in manchen Fachgebieten nicht genug Neues, um einen jährlichen Kongress zu veranstalten. Ein zwei- oder gar drei­jähriger Rhythmus wäre da zielführender, auch für Referent:innen, die oft mangels neuer Forschungsdaten ein und dieselben Vorträge mehrfach halten. Ein weiteres Zukunfts-Thema betrifft die Art der Vorträge. Wissenschaftliche Sessions im Frontal­unterrichtsstil gehören der Vergangenheit an. Interaktive Sessions und andere neue Formen von Wissens­vermittlung, bei denen sich die Teilnehmer:innen gut einbringen können, gewinnen im Gegensatz dazu an Boden.

Alles in allem wird die Organisation von Kongressen laut Inge Hanser immer komplexer: „Im Moment sind wir in einer Transitionsphase, wo neue Modelle versucht werden, oftmals auch mit dezentralisierten Angeboten, wo die zentralen Veranstaltungen teils digital abgebildet werden und im kleineren Kreis, etwa auf praktische Workshops heruntergebrochen, Veranstaltungen stattfinden.“ Hanser ist überzeugt, dass die Digitalisierung Einzug in die Kongressplanung und -umsetzung hält, dass neue Formen der Kommunikation das Angebot bereichern und interaktive Formate eine größere Rolle spielen werden.

Ein Hoch der Flexibilität

Die Kongress-Landschaft dürfte sich dann noch vielfältiger präsentieren. „Es werden noch mehr spezielle Kongresse entwickelt und auf der anderen Seite werden sich große Kongresse weiter stärken.“ Einige kleinere Veranstaltungen dürften es aber schwer haben zu überleben, weil sie nach Ansicht von Inge Hanser „nicht die genügende Aufmerksamkeit bekommen, auch von Seiten der Industrie, die sich durch gekürzte Budgets weniger an einer Unmenge von Kongressen beteiligen kann“. Wichtig sei zudem das stärkere Engagement im Bereich der sozialen Medien: „Wer hier den Anschluss verliert, vergibt sich viele Chancen.“

Das Thema des „Future Meeting Space“ ist und bleibt also spannend, wobei der Blick in die Glaskugel oft trügerisch sein kann. Wer etwa hat die soeben durchlebte Pandemie vorausgesehen? Entscheidend ist und bleibt Flexibilität sowie die Bereitschaft, sich den Herausforderungen der Zukunft zu stellen.

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