Veränderungsprozesse

Mit der „Theorie U“ die im Entstehen begriffene Zukunft erspüren

AUSTRIAN CONVENTION BUSINESS MAGAZIN (PRINT 2022/04)

Claus Otto Scharmer

Nur jeder fünfte eingeleitete Veränderungsprozess ist mit bisherigen Methoden von Erfolg gekrönt – die von Claus Otto Scharmer entwickelte „Theorie U“ hilft, das nachhaltig zu ändern

Er ist nicht nur Berater großer Unternehmen, internationaler Institutionen und NGOs, sondern auch Gründer des „Presencing Institute“ (mehr zu dem Begriff weiter unten) am berühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA: der deutsche Ökonom, Senior Lecturer und Aktionsforscher Claus Otto Scharmer. Besondere Aufmerksamkeit fand die von ihm entwickelte „Theorie U zur Zukunft des Managements“ und das mit ihr verbundene „Presencing“, das soziale Veränderungsprozesse anhand individuellen Denkens und Handels beschreibt. Die „Theorie U“ – das „U“ steht für den U-förmig verlaufenden Transformationsprozess – fand u. a. im „Change Management“, in der Nachhaltigkeitsforschung und in sozialen Bewegungen tollen Anklang.

Veränderungsprozesse und Gründe ihres Scheiterns

Gesellschaftlicher Wandel findet laut Otto Scharmer in immer kürzeren Zeitabständen statt und wird ständig komplexer sowie welt­umfassender. Dies macht Reformprozesse bei bestehenden Institutionen unvermeidlich. Doch die meisten reagieren auf äußere Impulse, wie Mitgliederschwund oder Rückgang der finanziellen Ausstattung, indem sie systemkonforme Lösungen suchen oder sich auf ihre „Kerngeschäfte“ konzentrieren, um hier die Qualität zu verbessern. Scharmer: „Mit anderen Worten: Man reagiert mit horizontalen, kaum in die Tiefe gehenden Veränderungsansätzen.“

Dies ist bei weitem zu wenig, denn es hat sich gezeigt, dass herkömmliche Methoden bei der Gestaltung von Veränderungsprozessen, die meist horizontal angelegt sind, immer weniger erfolgreich sind. „Die Wahrscheinlichkeit des Erfolges von Change-Prozessen in Deutschland liegt bei unter 21 %“, berichtet Otto Scharmer. Die Lösung besteht deshalb in vertikalen und damit tiefer gehenden Veränderungen entlang des „U“, womit die „Theorie U“ ins Spiel kommt.

„Presencing“ als Antwort

Ausgangspunkt dafür ist das, was Otto Scharmer als „Blinden Fleck“ bezeichnet: die Betrachtung eines noch gar nicht begonnenen Vorganges aus der Perspektive des Ergebnisses. Die Fragestellungen folgen dann auf dem Fuß: Was ist zu tun? Wie ist es zu tun? Und was sind die inneren Quellen, aus denen heraus wir es tun? „Die Idee, sich aus diesen inneren Quellen heraus in die im Entstehen begriffene Zukunft zu erfühlen, ist das wesentlich Neue an der Theorie U“, betont Otto Scharmer, der dies mit dem Terminus „Presencing“ bezeichnet. Es handelt sich bei dieser Wortschöpfung um die Verbindung der zwei Begriffe „presence“ (Anwesenheit) und „sensing“ (spüren). „Presencing“ steht also für Gegenwärtigung oder Anwesendwerden. Otto Scharmer: „Es geht darum, sein eigenes höchstes Zukunftspotential zu erspüren, sich hineinziehen zu lassen und dann von diesem Ort aus zu handeln, also um das Anwesendwerden im Sinne unserer höchsten zukünftigen Möglichkeit.“

Fünf Ebenen (E1-5) von Veränderungen, Quelle: Scharmer, aaO, 52, nach Abb. 2.2

Fünf Ebenen der Veränderung, sieben „Erkenntnisräume“

Otto Scharmer geht von fünf Ebenen von Veränderungen aus, die von ihm anhand des „U“ beschrieben wird. Die linke Seite des „U“ verdeutlicht, wie der gemeinsame Wille und Grund entdeckt wird, während die rechte Seite den Weg des Handelns verdeutlicht, wie die gemeinsam entdeckte Absicht realisiert werden kann. Und während die horizontale Achse den Weg von der Wahrnehmung über den Entschluss zum In-die-Tat-Umsetzen beschreibt, zeigt die vertikale Achse die verschiedenen Ebenen von der oberflächlichsten Antwort, der Reaktion, bis zum umfassenden Regenerieren.

Das Neue an Scharmers Ideen ist die Schwerpunktsetzung auf die 5. Ebene („E 5“). „Wir dürfen nicht beim Lernen und Handeln aus Vergangenheitserfahrungen stehenbleiben, sondern müssen das Lernen und Handeln aus der Quelle heraus in die im Entstehen begriffene Zukunft ableiten“, konkretisiert Otto Scharmer die Idee.

Insgesamt hat der MIT-Professor zudem sieben „Erkenntnisräume“ definiert, vom „gegenwärtige Realität anschauen“ bzw. dem „sensing“ (links oben im „U“), über das „Re-generating“ bzw. „Presencing“ (ganz unten) bis hin zum „neue Strukturen und Praktiken hervorbringen“ bzw. „Prototyping“ (rechts oben). Otto Scharmer: „Es geht dann darum, das Neue in Prototypen zu erproben, in denen die Zukunft durch praktisches Tun gemeinsam erkundet und entwickelt wird. Wichtig ist dabei, das Neue auch praktisch anzuwenden und institutionell zu verkörpern, es durch Infrastrukturen und Alltagspraktiken in eine Form bringen.“ Während des Prozesses ist es außerdem erforderlich, Halte- oder Umschlagpunkte zu durchlaufen (von Scharmer auch als „Schwellen“ bezeichnet), bevor der jeweils tiefer liegende Erkenntnisraum betreten wird. „Wir müssen uns quasi auf die nächsten Stufen vorbereiten.“

Um in die Tiefe des „U“ zu gelangen sind laut Scharmer drei Kernkompetenzen wesentlich, die sich den notwendigen Handlungen auf den verschiedenen Ebenen zuordnen lassen. Dabei geht es etwa um intellektuelle und analytische Fähigkeiten (gemessen in IQ, also dem Intelligenzquotienten), um den EQ (Emotionaler Quotient), der die Möglichkeiten misst, wie sehr man sich emotional in das Denken und Fühlen anderer Menschen hineinversetzen kann, um deren Sichtweisen und Handlungen zu verstehen, sowie um den SQ (Sozialer Quotient), der ein Ausdruck für die spirituelle Intelligenz ist. „Es geht hier um die Öffnung des Willens“, so Scharmer, demzufolge „diese dritte Kernkompetenz zurzeit noch am wenigsten ausgebildet ist. Daher ist es eine vordringliche Zukunftsaufgabe diese aufzubauen.“

„Die sieben Erkenntnisräume“, Quelle: Scharmer, aaO, 69 nach Abb. 2.9

Tanzender Weg durch das „U“

Der Weg durch das „U“ ist allerdings kein vorstrukturierter Prozess, der abgearbeitet werden kann. „Die Schritte bedingen sich gegenseitig und schließen sich gleichzeitig ineinander ein. Alle Phasen finden einander überlappend statt, eher wie ein Tanz“, beschreibt Otto Scharmer die Strategie. „Diesen Tanz müssen Führungskräfte und Beteiligte, Berater, Beraterinnen und Klienten gemeinsam tanzen.“

Dies erfordert eine hohe Flexibilität und Methodensicherheit. Aufgabe ist es zunächst, den tiefsten Punkt des „U“ zu erreichen, also „zu der Quelle zu gehen und eine Ahnung von der Zukunft zu erhalten“, so Scharmer. Erst daraus ergibt sich dann eine genaue Zielfestlegung.

Am Ende des Prozesses steht dann die Entwicklung von überschaubaren Prototypen, den „kleinen Erfahrungs- und Erfolgsinseln“, so Otto Scharmer: „Man kann gemeinsam üben, wie das Neue entwickelt wird und sich an der erfolgreichen, schnellen Umsetzung freuen.“ Der MIT-Professor schließt aber nicht aus, dass „auch nach intensiver Vorarbeit nicht alles auf Anhieb funktioniert.“ In solchen Fällen gilt es, Dinge nach zu justieren: „Damit wird ein Erfahrungsschatz aufgebaut, mit dem die dann anstehenden größeren Projekte professionell abgearbeitet werden können.“

Denn, so Otto Scharmer abschließend, „Proto­typen sind Landebahnen für die Zukunft. Sie ermöglichen ein Erkunden der Zukunft im praktischen Tun.“ 

Foto: © ottoscharmer.com

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